Die Entstehung von Rokoko, oder:
Wie wär’s mit einem flotten Dreier?

[Wir möchten einen kleinen Einblick in die lange Entwicklungsgeschichte von Rokoko in Form eines erfundenen Interviews geben, welches von der großartigen Lady auf dem Rokoko-Titelbild, Mademoiselle Juliette, durchgeführt wird]

Juliette: Wie kam es dazu, dass Sie drei zusammen Rokoko erschaffen haben?

Stefan Malz: Es begann im März 2010. Ein halbes Jahr vorher hatte ich Matthias zufällig auf der Messe in Essen kennengelernt und wir hatten uns anschließend gelegentlich per E-Mail und telefonisch über unsere aktuellen Projekte ausgetauscht. Im März fragte Matthias an, ob ich jemanden wüsste, der daran interessiert wäre, mit ihm ein Spiel basierend auf „Per Anhalter durch die Galaxis“ zu erstellen. Ich kannte die Bücher und wollte schon immer neue Erfahrungen sammeln, also stimmte ich zu, mitzumachen.

Juliette: Aber dieses Projekt war offensichtlich nicht erfolgreich, oder?

Matthias Cramer: Nein, es ist noch nicht einmal gestartet. Das Thema stand auf der Liste eines Verlags, aber sie hatten Probleme mit den Rechteinhabern. Aber ich war weiterhin interessiert an einer Zusammenarbeit und fragte bei Stefan an, ob er und Louis eine andere Idee für ein Projekt hätten, mit dem wir anfangen könnten.

Louis Malz: Und das hatten wir. Mein Vater und ich hatten gerade begonnen über ein Spiel nachzudenken, welches in der St. James’s Street in London spielt, wo viele der berühmten Schuhmacher ihren Firmensitz haben. Ein strategisches Spiel über Handwerkskunst, mit unterschiedlich ausgebildeten Angestellten, Rohstoffen und edlen, handgearbeiteten Produkten.


Creating “Rokoko”, or:
How about a threesome?

[We want to give you some insight into the long development of Rokoko by means of an imaginary interview performed by the gorgeous lady on the Rokoko cover, Mademoiselle Juliette]

Juliette: How did the three of you end up designing Rokoko together?

Stefan: It all started in March 2010. I just happened to get to know Matthias half a year earlier at the Essen fair after which we mailed and phoned from time to time, seeking each other’s advice on current projects. In March, Matthias mailed me asking if I knew somebody who’d be interested in designing a game based on “Hitchhiker’s Guide to the Galaxy” with him. I knew the books and always wanted to broaden my horizon, so I agreed to go along.

Juliette: But this project obviously didn’t come to fruition, did it?

Matthias: No, it didn’t even start. The theme was on a publisher’s list, but they had problems with the rights’ proprietor. But I was still interested in the cooperation and asked Stefan if he and Louis had another idea for a project to begin with.

Louis: And we did. My father and I had just started thinking about a game placed in St. James’s Street in London where many of those famous shoemakers are located. Something strategic with craftsmanship, differently qualified employees, resources, and fine hand-made products.


Bild 1: Früher Prototyp von „St. James’s Street“ mit Holzfiguren als Angestellte
Image 1: Early “St. James’s Street” prototype with wooden employees

Juliette: Also war dieses Schuhmacher-Spiel der Vorgänger von Rokoko?

Stefan: Ja, aber nicht direkt. Zuerst haben wir ungefähr zwei Monate an „St. James’s Street“ gearbeitet und mussten feststellen, dass irgendetwas fehlte. Es war ein gutes Spiel, und viele Testspieler mochten es, aber manchmal ist gut nicht gut genug.

Matthias: Ich spielte zu der Zeit mit unterschiedlichen Variationen des Deckbau-Mechanismus herum – ohne dabei eine Kopie von Dominion zu wollen. Der Deckbau wurde ein Kernelement und ersetzte den Arbeiter-Einsetz-Teil des Spiels. Gleich zu Beginn dieser Entwurfphase brachen wir zwei Grundregeln des Deckbaus: wir lassen die Spieler die Karten selbst aussuchen – anstatt sie zufällig zu ziehen – und neu erworbene Karten kommen direkt auf die Hand – anstatt auf den Abwurfstapel. Zur gleichen Zeit haben wir erstmals auch das Thema geändert. Die Spieler wurden nun Bestatter in Paris, fertigten Särge und erzielten Siechpunkte für Bestattungen auf dem berühmten Pariser Friedhof Pére Lachaise. Wurde ein Grab direkt neben Jim Morrison, Edith Piaf oder Marcel Proust belegt, gab es zusätzliche Punkte.

Stefan: Unsere Testspieler mochten das neue Spiel sehr, vor allem den schwarzen Humor darin. Aber dieses morbide Thema stelle für alle Verlage, denen wir das Spiel zeigten, ein Problem dar. Verstorbene und deren Hinterbliebene als Kunden waren offensichtlich für ein Familienspiel nicht geeignet. Schade…

 

Juliette: So this shoemaking game was the predecessor of Rokoko?

Stefan: Yes, but not directly. We first worked on “St. James’s Street” for about two months, only to find that something was missing. It was a good game, and many playtesters liked it, but sometimes good isn’t good enough.

Matthias: I was playing around with different variations of the deck-building mechanic at that time – without making another Dominion copy. Deck-building became the engine and replaced the worker placement part of the game. In the first concepts of this design phase, we also broke two core rules that most other deck-building games have: we let the players pick their cards – instead of drawing – and new cards are going to the hand – instead of the discard pile. At the same time, we also changed the theme for the first time. Players now became morticians in Paris, producing coffins and gaining points for funerals at the famous Pére Lachaise. If you got a grave next to Jim Morrison, Edith Piaf or Marcel Proust, you scored additional points.

Stefan: Our playtesters liked the new game a lot, especially the sick humor within. But the new morbid theme was problematic for all publishers we showed the game. Having deceased ones and their bereaved as customers was obviously not appropriate for a family game. Too bad…


Bild 2: Friedhofs-Spielplanprototyp “Die letzte Ruhe”
Image 2: “Die letzte Ruhe” (“The final rest”) cemetery board prototype

Matthias: Zu jener Zeit waren wir alle in andere Projekte vertieft. Lancaster und Helvetia waren kurz davor, veröffentlicht zu werden und forderten einen Großteil meiner Zeit ein. Louis und Stefan arbeiteten intensiv an EDO. Deshalb wurde „Die letzte Ruhe“ selbst erst einmal für fast zwei Jahre zur Ruhe gelegt.

Juliette: Und wie kam es, dass das Spiel nach so langer Pause noch eine Chance erhielt?

Stefan: Während der Unterbrechung hatte ich die Gelegenheit, den Prototypen einem Redakteur zu zeigen, der sich die Zeit nahm, in Ruhe über unser Thematik-Problem nachzudenken. Er kam auf die Idee, das Spiel in die Zeit des Rokoko zu versetzen. Deshalb habe ich im Mai 2012, nachdem unser eigenes Spiel EDO endlich veröffentlicht worden war, Matthias mitgeteilt, dass wir beschlossen hatten, den Prototyp noch einmal herauszuholen und das neue Thema auszuprobieren.

Louis: Schon einige Wochen später konnten ihn erstmals Peter Eggert und Viktor Schulz von eggertspiele auf einem ihrer Spieleautorentreffen in Hamburg zeigen, und sie zeigten sofort Interesse an dem Spiel.

 

Matthias: At that time, we both were lost in other projects. Lancaster and Helvetia were about to be published and took a lot of my time. Louis and Stefan were working heavily on EDO. So “Die letzte Ruhe” was taking a rest itself for nearly two years.

Juliette: How come you gave it another go after such a long break period?

Stefan: During the break, I had the chance to show the prototype to an editor who took some time to think about our thematic problem, and he came up with the “Rokoko” idea. So in May 2012, after our own game EDO was finally published, I told Matthias that we decided to pick up the prototype again and try the new theme.

Louis: Only a few weeks later, we first presented it to Peter Eggert and Viktor Schulz from eggertspiele at one of their game designer meetings in Hamburg and they immediately showed an interest in the game.


Bild 3: Früher „Rokoko“-Prototyp
Image 3: Early “Rokoko” prototype

Matthias: Im Juli nahm ich das Spiel mit zum „Gathering of Friends“ auf Mallorca. Das ist eine Veranstaltung, bei der Verleger, Redakteure, Blogger und Spieleautoren eine Woche zusammen verbringen und den ganzen Tag Prototypen testen. Wir hatten viele Partien mit erfahrenen Spielern und machten anschließend zahlreiche Änderungen. Das Spiel war zu lang, also kürzten wir das Spiel von neun auf sieben Runden. Wir führten außerdem die Boni auf bestimmten Feldern der Säle ein. Und die Kartenboni wurden in den letzten 12 Monaten häufig geändert – ich denke, man könnte allein über die unterschiedlichen Kartenversionen und Bonusverteilungen während der verschiedenen Entwicklungsstufen von Rokoko ein eigenes Entwicklertagebuch schreiben.

Juliette: Also war schon dann beschlossen, dass Rokoko bei eggertspiele erscheinen wird?

Louis: Nein, noch nicht. Wir mussten uns noch bis September gedulden, bis eggertspiele schließlich fest zusagte, Rokoko zu veröffentlichen. Diese Zeit nutzten wir, um das Spiel weiter zu verbessern. Dann trafen wir uns alle auf der SPIEL ’12 in Essen und sprachen über die Vertragsdetails. Dort wurde uns auch schon mitgeteilt, das geplant wäre, Michael Menzel als Illustrator zu gewinnen. Nun nahm die Entwicklung erst so richtig Fahrt auf.

 

Matthias: In July, I took the game to the “Gathering of Friends” on Majorca. This is an event where publishers, editors, bloggers, and game designers are spending a week together and testing prototypes all day. We had a lot of sessions with very experienced players and made a lot of changes afterwards. The game was too long, so we capped the last two rounds from nine to seven. We also introduced the bonuses for certain fields in the ballrooms. The card functions were changed many times during the last 12 months – I think it would be possible to fill an own Designer Diary just with the different versions of cards and bonus distributions during the different stages of Rokoko.

Juliette: So it was already decided back then that Rokoko would be published by eggertspiele?

Louis: No, not yet. We had to wait until September for eggertspiele to finally agree to publish Rokoko. Time we used to improve the game further. We then all met at the SPIEL ’12 in Essen and discussed the agreement details. And we were already told that Michael Menzel was planned to become the game’s illustrator. Now the whole development took up speed.


Bild 4: Fast endgültige Prototypen der Angestellen-Karten
Image 4: Nearly final employee card prototypes

Stefan: Wir begannen eine eingehende Testphase mit drei Prototypen, die bespielt wurden. Ich hatte ein Interview mit Klemenz Franz, dem österreichischen Illustrator, gelesen, in dem er sagte, dass er für jedes seiner Projekte ein Online-Forum anlegt, um die Kommunikation zwischen Autoren, Verlegern und Illustratoren zu vereinfachen. Also tat ich das auch und richtete auf unserem Server ein Online-Forum ein. Dies half uns sehr, konnten wir dort doch alle Partien protokollieren, aufkommende Probleme und Fragen diskutieren und Ideen für die Zukunft speichern. Im Dezember hatten wir dann ein erstes Treffen mit Michael Menzel beim Verlag, bei dem ihm das Spiel erklärt wurde und erste grafische Ideen besprochen wurden.

Juliette: Wie war das Arbeiten in einem solch großen Team? Bei drei Autoren, Redakteuren vom Verlag und dem Illustrator – waren Sie sich da jemals einig?

Matthias: Die Koordination war nicht immer einfach, weil Louis und Stefan mehr als 300 km entfernt von mir wohnen. Wir hatten unterschiedliche Testgruppen und diese brachten manchmal sehr unterschiedliche Ergebnisse zutage.

 

Stefan: We started with an extensive testing phase, having three prototypes to play with. I once read an interview with Klemens Franz, the Austrian illustrator, who said that he always sets up a separate online forum for each of his projects to facilitate the communication between authors, publishers, and illustrators. So I did the same, setting up an online forum on our server. This helped a lot, since we could log all playtests there, discuss upcoming problems, and store ideas for future use. In December, we had a first meeting with Michael Menzel at the publisher, explaining the game to him and discussing first graphical ideas.

Juliette: What was working in such a huge team like? With three authors, editors from the publisher, and the illustrator – did you ever agree on something?

Matthias: Coordination was not always easy as Louis and Stefan live more than 200 miles away from me. We were working with different testing groups and those delivered different results sometimes.


Bild 5: Reale Spielsituation während der letzten Testphase
Image 5: Genuine play situation during final testing phase

Louis: Die Tatsache, dass wir drei verschiedene Testgruppen hatten, führte oftmals zu Diskussionen, die nur auf einseitigen Erfahrungen basierten. Jeder von uns hatte unterschiedliche persönliche Erfahrungen mit dem Spiel und erachtete andere Aspekte als wichtig.

Matthias: Wir begannen, das Online-Forum für unsere internen Diskussionen zu verwenden. Der Nachteil eines solchen Vorgangs ist, dass man für bestimmte Details kämpfen muss – aber eben weil man kämpfen muss, lernt man eine Menge über das eigene Spiel und die eigenen Motive, was das Ganze in einen großen Vorteil verwandelt. Einige Fragen wurde bis ins letzte Details diskutiert, zum Beispiel: Wie viel Geld soll im Spiel sein, wie verdient man es und wie kann man es ausgeben? Ein komplexes Spiel bietet sehr viele Möglichkeiten für Anpassungen, und viele davon führen in Richtungen, die man nicht geplant hat.

Stefan: Es war hilfreich, dass ich langjährige Erfahrung als Berater habe; darin, herauszufinden, was die Kunden wirklich wollen und eine Lösung zu finden, die oftmals Ideen aller Beteiligten aufgreift und daraus etwas komplett Neues macht. Zurückblickend sind alle Aspekte des Spiels in der einen oder anderen Hinsicht das Ergebnis von Teamwork, eine Kombination unser aller Ideen.

 

Louis: The fact that we had three separate testing groups resulted in many discussions that were based solely on unilateral experiences. Every one of us had different personal experiences with the game and regarded other aspects as important.

Matthias: We started using the online forum for our internal discussions. The disadvantage of such a process is that you have to fight for certain details – but by having to fight, you learn a lot about your own game and your motives, turning this into a huge advantage. We went very deep into detail for some questions, for example: How much money should be in the game, how is it earned and how is it spent? A complex game is providing a lot of possibilities for modification and a lot of those led into directions that we didn’t intend.

Stefan: It helped that I have a long term experience in consulting, trying to find out what the customers really want and finding a solution that often incorporates ideas of all participants while still being something completely new. In retrospect, all aspects of the game were teamwork in one way or the other, combining partial ideas of all of us.


Bild 6: Das endgültige Titelbild für „Rokoko“ von Michael Menzel
Image 6: Final “Rokoko” cover by Michael Menzel

Juliette: Rokoko wurde nun dreieinhalb Jahre lang entwickelt. Wenn man die ursprüngliche Idee von „St. James’s Street“ mit Rokoko vergleicht, was erkennen Sie von den Ursprüngen wieder?

Stefan: Viele grundlegende Ideen sind unverändert, genauso wie viele mechanische Elemente, beispielsweise der Markt- und Werkstattmechanismus. Aber insgesamt würde ich sagen, dass wir jetzt ein komplett neues Spiel haben. Es ist leichter zu erklären, schneller zu spielen und hat eine noch größere Vielfalt und strategische Tiefe.

Matthias: St. James’s Street wurde begraben, bevor wir mit der Austarierung begonnen haben – es ist also schwer, beide Spiele zu vergleichen. Rokoko wurde erst nach einer gewissen Entwicklung der Karten und Ausstattungen geboren. Von Beginn an waren mehrere Hauptstrategien angedacht, die beobachtet wurden. Aber der Traum jedes Spieleautors ist es, während der Testspiele weitere Wege abseits dieser Hauptstrategien zu entdecken. Im Laufe der Tests rückten immer mehr der Hauptstrategien in den Hintergrund und machten Platz für eine große Vielfalt an Einzelaspekten. Um Rokoko erfolgreich zu spielen, muss man einige dieser Aspekte kombinieren, während man andere ignoriert. Daran zeigt sich, dass die dreieinhalb Jahre, die mit Schuhen, Särgen und Kleidern verbracht wurden, gut investiert waren.

Juliette: Vielen Dank für dieses Interview. Ich hoffe, dass all der Aufwand, den Sie in das Spiel investiert haben, belohnt werden wird! Und übrigens, wenn Sie gerade hier sind: ich denke gerade über ein neues Kleid nach. Etwas ganz besonderes! Vielleicht könnten Sie…?

 

Juliette: Rokoko has been developed for three-and-a-half year now. If you compare the initial idea of St. James Street with the final game, do you still recognize the original ideas?

Stefan: Many basic ideas are still the same, as are many mechanical elements such as the market and workshop mechanisms. But in total, I’d say that we now have a completely new game. It’s easier to explain, faster to play, and has even greater variety and strategic depth.

Matthias: St. James’s Street died before we started the balancing – so it’s hard to compare both games. Rokoko started to live after a certain development stage of the cards and the decorations. There were several main strategies intended and examined from the beginning. But every game designer’s dream is to discover other ways of playing beside those strategies during play testing. As we continued testing, more and more of the main strategies disappeared making place for a larger variety of aspects. Playing Rokoko successfully means combining some of these aspects while ignoring others. So the three and a half year spent with shoes, coffins, and dresses proved to be well invested.

Juliette: Thank you for this interview. I hope that all the effort you invested in your game will be rewarded! And by the way, while you’re here, I was thinking about a new dress. Something very special! Maybe you could…?